
Experimentierräume & Experimentierklauseln
Rechtliche Spielräume für die lokale Verkehrswende
und die Nutzung von Experimentierklauseln
Innerhalb des bestehenden Rechtsrahmens ist mehr möglich als oft gedacht. Die Novellierung der Straßenverkehrsordnung (StVO) und des Personenbeförderungsgesetzes (PBefG) sowie das im Sommer 2021 in Kraft getretene neue Gesetz zum autonomen Fahren haben die Spielräume für die kommunale Verkehrspolitik erweitert.
Exemplarisch bedeutet das: Mithilfe von temporären Anordnungen lassen sich kurzfristig Maßnahmen umsetzen wie auch z. B. die Einführung von Geschwindigkeitsbegrenzungen oder die Einrichtung von Pop-up Radwegen.
Beim Thema Parkraumbewirtschaftung haben die Stadtstaaten (Hamburg, Berlin, Bremen) die Möglichkeit, die Gebühren für die Bewohnerausweise selbst festzulegen. Die Kommunen in den Flächenländern müssen sich an die Richtlinien der jeweiligen Länder halten.
Nach dem neuen PBefG kann der Aufgabenträger die Rückkehrpflicht von Mietwagen nun selbst ausgestalten.
Mit dem Gesetz zum autonomen Fahren hat die Bundesregierung einen Regelungsrahmen geschaffen, der es erlaubt, dass zukünftig autonome Fahrzeuge ohne einen physisch anwesenden Fahrer in festgelegten Betriebsbereichen des öffentlichen Straßenverkehrs unter Bedingungen einer effektiven Fernüberwachung im Regelbetrieb fahren können.
Diese Beispiele zeigen, dass kommunale Handlungsmöglichkeiten bestehen und auch Innovationen im Verkehr möglich sind, ohne dass die Option der Experimentierklausel gezogen werden muss.
Dennoch kann es sinnvoll und notwendig sein, die Möglichkeit einer Experimentierklausel zu nutzen. Das gilt insbesondere dann, wenn die Projekte der Forschungsagenda „Nachhaltige urbane Mobilität“ vorsehen, neu entwickelte Mobilitätskonzepte in den Kommunen in einem experimentellen Setting zu erproben.
Das ist das Ziel des Förderprogramms: Zukunftsfähige Mobilitätskonzepte sollen unter realen Bedingungen getestet werden. Bisher gibt es allerdings kaum gut dokumentierte Praxisbeispiele aus dem Mobilitätsbereich, die detaillierte Einblicke in die Anwendung von Experimentierklauseln erlauben.
Konzeptionelle Ebene
Grundsätzlich haben Kommunen im Hinblick auf kommunale Straßen über die genannten hinaus weitere Gestaltungsspielräume. Diese ergeben sich nicht zuletzt durch das 2018 erlassene Carsharing-Gesetz (CsgG) sowie das Elektromobilitätsgesetz (EmoG). Beide Rechtsgrundlagen erlauben Kommunen die Ausweisung von öffentlichen Ladestationen und Carsharing-Stellplätzen auf öffentlichen Flächen.
Zugleich ist der aktuelle Rechtsrahmen auf die bestmögliche und rechtssichere Regulierung des bestehenden Verkehrssystems ausgelegt. Das ist nun mal durch die Dominanz des privaten Autos geprägt. Alternativen zulasten des Autoverkehrs zu stärken, erfordert von den Verkehrsverwaltungen Mut und eine Rückendeckung durch die politische Spitze. Dann erweist sich der rechtliche Rahmen als auslegefähig. Zudem bestehen mit den Experimentierklauseln Möglichkeitsräume für zulässige Abweichungen vom bestehenden rechtlichen Rahmen. In den meisten Fällen handelt es sich bei Experimentierklauseln um Ausnahmetatbestände, die eine Nichtanwendung oder Abweichung von einer bestehenden Rechtsnorm zulassen und so öffentlichen oder privaten Akteuren eine Erprobung von innovativen Mobilitätslösungen ermöglichen (sollen).
Im Bereich des Verkehrsrechts sind aktuell vor allem folgende Experimentierklauseln zentral:
Personenbeförderungsgesetz (PBefG) § 2 Abs. 7:
„Zur praktischen Erprobung neuer Verkehrsarten oder Verkehrsmittel kann die Genehmigungsbehörde auf Antrag im Einzelfall Abweichungen von Vorschriften dieses Gesetzes oder von auf Grund dieses Gesetzes erlassenen Vorschriften für die Dauer von höchstens vier Jahren genehmigen, soweit öffentliche Verkehrsinteressen nicht entgegenstehen.“
Die Anwendung von Experimentierklauseln für eine nachhaltige Mobilität gestaltet sich in der Praxis jedoch oft schwierig, wie sich mit Verweis auf das Personenbeförderungsgesetz zeigen lässt. Das Personenbeförderungsgesetz ist nach wie vor darauf ausgerichtet, den Markt der kommerziellen Personenbeförderung so zu begrenzen, dass der öffentliche Personennahverkehr und das Taxi vor Konkurrenz geschützt werden. Ein Aufgabenträger darf eine Ausnahme laut Gesetz nur dann genehmigen, wenn „öffentliche Verkehrsinteressen" dem nicht entgegenstehen. Das Gesetz definiert jedoch nicht eindeutig, welche „öffentlichen Verkehrsinteressen" berücksichtigt werden müssen, sondern überlässt das weitgehend dem Ermessen der Genehmigungsbehörde und der Abwägung der örtlichen Interessen. Damit besteht immer eine beträchtliche Unsicherheit.
Am Beispiel des Betriebs autonomer Shuttles zeigt sich, dass ein hohes Maß rechtlicher Expertise erforderlich ist, um innovative Mobilitätslösungen zu erproben. Dies stellt für kommunale Mobilitätsprojekte, die die Spielräume von Experimentierklauseln und Ausnahmegenehmigungen nutzen wollen, oftmals eine große Herausforderung dar. In diesen Fällen ist es dringend ratsam, juristische Fachkenntnis durch die Nutzung entsprechender Beratungsangebote oder die Vergabe von Aufträgen zu erschließen. Es gibt bisher leider kaum gut dokumentierte Praxisbeispiele, konkrete Leitfäden oder Handbücher für die Anwendung von Experimentierklauseln im Mobilitätsbereich. Diese gilt insbesondere für nicht (primär) technische Innovationen.
Für den Bereich digitaler Innovation bietet das „BMWI-Handbuch zu Reallaboren“ (BMWI 2019) eine Orientierungshilfe zu zentralen Themenbereichen, die allgemein beim Aufbau regulatorischer Experimentierräume berücksichtigt werden sollten. Neben einem einleitenden Überblick zum Thema Reallabore und regulatorischen Experimentierräumen werden hier relevante Fragen thematisiert, wie die Festlegung der Ziele eines Experimentierraums und ihre Messbarkeit, die Identifikation rechtlicher Hürden und Spielräume sowie die Auswahl relevanter Akteure für die Phasen von Planung, Aufbau und Umsetzung von Experimentierräumen.
Erfahrungen und Hinweise zur Nutzung der rechtlichen Spielräume der lokalen Verkehrswende, ohne eine Experimentierklausel zu nutzen.
Gesetzestext zum autonomen Fahren vom Juli 2021
Literatur-Tipp zu Kosten autonomer Shuttles
Gesetzestext zur Modernisierung des Personenbeförderungsrechts (Novelle des PBefG)
Verschiedene Stellplatzsatzungen:
Stellplatzsatzung der Stadt Oberursel
Leitfaden zur Stellplatzsatzung der Stadt Oberursel
§ 4 (5) Öffnungsklausel in Parkgebührenverordnung und Stellplatzsatzung, München
Stellplatzsatzung § 2 (2), München
Fahrradabstellplatzsatzung, München
Bericht Mobilitätskonzepte, Bremen
Artikel zum Thema Parkgebühren, Tübingen
Gutachten zu Gestaltungsspielräumen und Akzeptanz kommunaler Verkehrswendepolitik:
Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 24. März 2021 war bahnbrechend: Der Gesetzgeber wurde in die Pflicht genommen, bei der Klimagesetzgebung auch zukünftige Generationen mitzubedenken. Wie sich nun der Gestaltungsraum der Kommunen im Bereich der nachhaltigen Mobilität verändert, zeigt das Rechtsgutachten von BBG und Partner.
Fachinformationen und wissenschaftlichen Studien
Handbuch
Leitfaden
Weitere Publikationen
Praktische Ebene
Berichte von Praxisprojekten: